Die Zeit – 27 marzo 2024

Angelo Becciu war einer der mächtigsten Männer im Vatikan. Nun soll er wegen Veruntreuung und Amtsmissbrauch in Haft. Hier spricht der Kardinal über das Urteil – und beteuert seine Unschuld

INTERVIEW: MARCO ANSALDO UND EVELYN FINGER, FOTO: STEPHANIE GENGOTTI

ZEIT: Eminenz, der Gerichtshof des Vati­ anstaates hat Sie zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Stimmt  es, dass Sie der erste Kardi­ nal sind, der ins Gefängnis muss?

Giovanni Angelo Becciu: Ich bin nicht der allererste, aber um einen weiteren verurteilten Kardinal  zu finden, muss man weit in der Ge­ schichte zurückgehen. Im Jahr 1557 wurde auf Geheiß von Papst  Paul IV. nach einem langen Prozess der Kardinal Morone freigesprochen – zuvor hatte man ihn  inhaftiert. Seitdem gab es im Vatikan keine Prozesse mehr gegen Kardi­ näle. Mein Trost ist, dass  ich unschuldig bin.

ZEIT: In der Kurie streitet man, ob ein Mann Ihres Ranges vor Gericht zitiert  werden durfte. Warum galt die Immunität für Sie nicht?

Becciu: Der Papst hat das entsprechende Ge­ setz ändern lassen, als die Ermittlungen schon liefen.  Jetzt urteilt nicht mehr das Kardinals­ kollegium über die im Vatikan tätigen Kardi­ näle und  Bischöfe, wie es in der Vergangenheit der Fall war, sondern das Tribunal des Vati­ kanstaates.

ZEIT: Haben Sie erwogen, nicht vor Gericht zu erscheinen?

Becciu: Nein. Ich habe die Vorladung akzep­ tiert, aus Gehorsam gegenüber dem Papst. Und ich  dachte, man würde mich gerecht be­ handeln, mich nicht vorverurteilen.

ZEIT: Als der Prozess begann, hatten Sie bereits Ihre Ämter verloren. Sie waren nicht mehr  Substitut und nicht mehr Präfekt. Zuvor waren Sie jahrelang der drittmächtigste Mann nach dem Papst  und sein enger Vertrauter gewesen. Fühlen Sie sich von ihm verraten?

Becciu: Der Papst hat mir weiterhin Vertrauen entgegengebracht. Ich bin davon überzeugt, dass er in  Bezug auf mich irregeführt wurde.

ZEIT: Was war für Sie der schwierigste Moment vor Gericht?

Becciu: Alles war schwierig. Es war eine Ernied­ rigung.

ZEIT: Sie wurden wegen Veruntreuung und Amtsmissbrauch verurteilt. Haben Sie diese Delikte  gestanden?

Becciu: Wie könnte ich sie gestehen? Ich habe sie nicht begangen!

ZEIT: Es gab noch mehr schwerwiegende Anschuldigungen gegen Sie als die genannten.

Becciu: Von der  Hälfte der Vorwürfe wurde ich freigesprochen. Aber auch die andere Hälfte ist falsch. Alles falsch!  Das Gericht wies zum Bei­ spiel den Vorwurf der Anstiftung zur Falsch­ aussage zurück. Ich sollte  angeblich einen Zeu­ gen unter Druck gesetzt haben. Eine surreale Behauptung! Das Gegenteil war der  Fall, wie sich im Prozess herausstellte: Der Zeuge war erpresst worden, falsche Beschuldigungen ge­  gen mich zu erheben. Nur deswegen wurde ich vor Gericht zitiert. Dort kam das Manöver ans Licht.  Das ist die bittere Wahrheit!

ZEIT: Haben Sie irgendeine Schuld einge­ räumt? Gibt es Fehler, die Sie heute bereuen?

Becciu: Ich fühle mich absolut nicht schuldig und bin  es auch nicht. Alle Vorwürfe wurden von meinen Anwälten entkräftet.

ZEIT: Aber Sie wurden doch verurteilt!

Becciu: Zu Unrecht. Im Prozess hat sich ge­ zeigt, dass ich  immer die Interessen des Heili­ gen Stuhls verteidigt habe, nie meine persönli­ chen. Als  Vorgesetzter werde ich gewiss Fehler gemacht haben: Ich mag Dinge falsch einge­ schätzt, manchmal  den falschen Leuten ver­ traut haben. Aber Managementfehler sind keine Straftaten!

ZEIT: Vor Weihnachten wurden Sie zu der Haftstrafe verurteilt. Jetzt ist Ostern, und Sie leben noch  in Ihrer Wohnung am Petersplatz. Wann müssen Sie ins Gefängnis?

Becciu: Ich glaube, nie. Ich bin sicher, dass meine Unschuld anerkannt wird und die Wahrheit siegt.  Wir werden gegen das Urteil Berufung einlegen.

ZEIT: Warum haben Sie es noch nicht getan?

Becciu: Meine Anwälte haben den Antrag ein­ gereicht.  Aber seit Monaten warten wir auf die Urteilsbegründung.

ZEIT: Werden Sie sich nur gegen das Urteil wehren – oder stellen Sie auch das Verfahren infrage,  wie es viele Kritiker tun?

Becciu: Einige der renommiertesten Juristen in Italien haben schwerwiegende Kritik an dem Verfahren  geübt. Ich denke dabei insbesondere an Kardinal Herranz und die Universitätsprofessoren Paolo Cavana und Geraldina Boni. Aber ich will, dass das Berufungsverfahren meine Unschuld  beweist. Um den Ursprung dieser Affäre vollständig aufzuklären, hoffe ich auch, dass die  Geheimhaltung von Zeugen­ aussagen aufgehoben wird, konkret geht es um über hundert Chats zwischen  dem Promotor Iustitiae des Vatikan und einer Zeugin.

ZEIT: Sie wohnen im Gebäude der Glaubens­ kongregation, direkt neben dem Petersdom. Wie wurden Sie  im Vatikan behandelt, seit gegen Sie ermittelt wurde?

Becciu: Nach Beginn der Ermittlungen und dem Verlust meiner Ämter, im Jahr 2020, waren viele in der  Kurie von meiner Schuld überzeugt, ich wurde isoliert. Im Laufe desProzesses, als eine Verschwörung gegen mich zutage trat, drehte sich die Stimmung voll­ kommen.

ZEIT: Sind Sie verbittert über das anfängliche Misstrauen Ihres Umfeldes?

Becciu: Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich keineswegs nur von Misstrauen umgeben. Gewiss, einige  haben mich enttäuscht. Dafür war die Zuneigung meiner Familie und mei­ ner alten Freunde  unerschütterlich. Ich bin den Menschen in meiner Heimat Sardinien sehr dankbar, die nie an meiner  Ehrlichkeit gezweifelt haben.

ZEIT: Ihre Kirche scheint heute nur noch aus Skandalen zu bestehen. Wie war diese Kirche früher, in Ihrer Kindheit?

Becciu: Ich komme aus einer gläubigen Fami­lie. Me auer, meine Mutter Hausfrau, bei uns wurde ein einfacher, aber starker Glaube gelebt. Als Kind ging ich gern in die Gemeinde, ich liebte die Zeremonien, und es faszinierte mich, wie die Priester auf­ traten. Es waren gute Priester

ZEIT: Warum sind Sie Priester geworden?

Becciu: Ich wollte sein wie die, die ich kannte: ein Prediger und Erzieher. Nach sieben Jahren als Ausbilder junger Seminaristen in Sardinien kam  überraschend der Ruf aus Rom, an die Päpstliche Diplomaten­Akademie.

ZEIT: Haben Sie gezögert?

Becciu: Nein. Ich bat um Bedenkzeit. Doch dann überwog der Wunsch, dort zu sein,wohin die Kirche mich ruft – und ich ak tierte.

ZEIT: Als Vatikandiplomat dienten Sie auf ver­ schiedenen Kontinenten. Sie lernten in Afrika eine  arme und bedrohte Kirche kennen, in Nordamerika und Europa eine machtvolle.

Becciu: Zuerst war ich Sekretär in den Nuntia­ turen der Zentralafrikanischen Republik, der  Republik Kongo, des Sudan und Sierra Leones. Dann ging ich nach Neuseeland, London, Paris,  Washington. Nuntius war ich in Angola und Kuba. Die Aufgabe war überall dieselbe: die Verbindung  zwischen Papst und Ortskirche halten, für soziale Gerechtigkeit und die Ach­ tung der  Menschenrechte einstehen. Vatikan­ diplomaten vertreten keine politischen, wirt­ schaftlichen oder  militärischen Interessen, sie verteidigen die Rechte der Leute vor Ort.

ZEIT: Wo wären Sie gern geblieben?

Becciu: Ich habe an alle diese Länder mein Herz verloren. In Afrika sagt man: Du gehst mit Tränen  in den Augen in ein neues Land und verlässt es weinend.

ZEIT: Hatten Sie nie Heimweh?

Becciu: Als Priester musst du allen ein Freund sein, dann bleibt jeder dein Freund, wenn du gehst.  Ich gebe aber zu: Wir Sarden verlassen unsere Insel ungern. Jeden Sommer kehrte ich zurück, um Urlaub zu machen, den Kontakt zum Bistum und zu meiner Familie zu halten. Sardinien war immer mein  Zuhause.

ZEIT: Wie kam es, dass Sie 2011 plötzlich Sub­ stitut des Vatikan wurden, also an die Spitze des  Staatssekretariates aufstiegen?

Becciu: Der damalige Kardinalstaatssekretär Bertone rief mich auf Kuba an, wo ich Nunti­ us war,  und sagte zu mir: Wir erwarten Sie in Rom. Ich war verblüfft. Be­denkzeit nahm ich an.

ZEIT: Seit 2011 arbeiteten Sie für Papst Bene­ dikt, 2013 bestätigte Franziskus Sie im Amt. Doch  2018 degradierte er Sie zum Chef eines Dikasteriums, also einer Kurienbehörde.

Becciu: Es war keine Degradierung, ich wurde vom Bischof zum Kardinal und gleichzeitig zum  Präfekten des Dikasteriums für die Selig­ und Heiligsprechungsprozesse befördert.

ZEIT: 2020 traten Sie als Präfekt zurück. Die vatikanische Staatsanwaltschaft ermittelte ge­ gen  Sie, es ging um finanzielle Unregelmäßig­ keiten im Staatssekretariat. Seit wann waren Sie für  dessen Finanzen verantwortlich?

Becciu: Dem ist nicht so! Als Substitut war ich für 17 Abteilungen zuständig, von denen eine die  Mittel des Staatssekretariats verwaltete. Wir arbeiteten vertrauensvoll zusammen. Die Auf­ gabe  dieses Verwaltungsbüros war es, Investi­ tionen vorzuschlagen. Meine Aufgabe war es, die finale  Genehmigung zu erteilen. Ich habe immer die Vorschläge, die mir unterbreitet wurden, angenommen.  Wir hatten die Aufga­ be, zugunsten des Heiligen Stuhls zu wirken. Unsere Experten genossen das  Vertrauen aller.

ZEIT: Waren das Priester?

Becciu: Nein, meist Laien. Der Büroleiter Alberto Perlasca war Priester, aber mit Erfah­ rung bei  der Verwaltung kirchlicher Güter. Dieses Fach unterrichtet er auch an der Uni­ versität. Ich hatte  in dem Feld keine Befähi­ gung und keine Erfahrung. Darüber scherzten wir manchmal.

ZEIT: Lassen Sie uns über die Londoner Immo­ bilie sprechen, die den ganzen Prozess auslöste: Die  Richter sagen, der Vatikan habe bei dem Geschäft 139 bis 189 Millionen Euro verloren. Und Sie seien  schuld, weil Sie 200 Millionen Euro aus dem Vermögen des Staatssekretariats investierten – ein  Drittel von dessen Gesamt­ vermögen, ohne das Risiko zu prüfen.

Becciu: Zuerst eine Klarstellung: Ich wurde nicht für die Investition verurteilt, sondern nur für  die Genehmigung, zu investieren. Die schriftliche Genehmigung für die Investition kam vom damaligen  Kardinalstaatssekretär, Tarcisio Bertone, meinem Vorgesetzten. Ich habe das ausgeführt. Grundlage  für Bertones Entscheidung war wiederum ein Gutachten unseres Sonderbüros für Investitionen, also  von den Experten unter Perlasca.

ZEIT: Perlascas Büro war Ihnen aber unter­ stellt, oder nicht?

Becciu: Ja. Aber mir wurde immer versichert, dass die Investition keinerlei Risiko mit sich bringe.

ZEIT: Sie kamen ein Jahr vor dem VatiLeaks­ Skandal nach Rom. Damals ging es bereits um das dubiose  Finanzgebaren der Vatikanbank, Joseph Ratzinger versuchte, dort aufzuräumen. Sie selbst ermittelten  später gegen Finanzbera­ ter des Vatikan, ordneten eine externe Über­ prüfung der  Kurien­Buchhaltung an. Hätten Sie geglaubt, dass die vatikanische Staatsan­ waltschaft auch gegen  Sie ermitteln könnte?

Becciu: Nein, denn ich war mir keines Verge­ hens bewusst. Außerdem war es ganz und gar unüblich,  einen Leiter des Staatssekretariates oder auch nur einen Beamten der Kurie vor Gericht zu stellen.

ZEIT: Ende 2019 hatte Papst Franziskus die Spekulation in London noch verteidigt. Er sag­ te, die  Zeiten, als man sein Geld in den Spar­ strumpf steckte, seien vorbei. Da wurde bereits gegen Sie  ermittelt. Ausgerechnet die Vatikan­ bank hatte die Kreditaufnahme für den Londo­ ner  Immobilienkauf als verdächtig gemeldet. Im Sommer 2021 wurde dann das Hauptver­ fahren vor dem  Vatikan­Gerichtshof gegen Sie und neun andere Angeklagte eröffnet. Einige waren an dem  Verlustgeschäft in London betei­ ligt. Halten Sie die auch alle für unschuldig?

Becciu: Ich konzentriere mich auf mich und werde nicht über andere urteilen.

ZEIT: Warum ist die Londoner Investition schiefgelaufen?

Becciu: Sie müssen die Sache im Kontext sehen. Das Geschäft verlief in vier Phasen: erstens die  eigentliche Investition mit dem Erwerb von 45 Prozent des Fonds, der die Immobilie hielt; zweitens  der Ausstieg aus dem Fonds vor Ab­ lauf der festgelegten Frist; drittens der Kauf der Immobilie und  die Übertragung ihrer Verwal­ tung an den Makler Torzi; viertens der Verkauf.

ZEIT: Mit hohem Verlust.

Becciu: Ja. Aber ich war nur für die erste Phase zuständig, die der Investition. Mein Büroleiter  versicherte mir, dass alles gut laufe. Er erwähn­ te nie Probleme. Davon erfuhr ich erst im Ok­  tober 2019, ein Jahr nach meinem Ausscheiden aus dem Amt des Substituten. Die Probleme zeigten  sich, als ich weg war. Keiner hatte sie mir gegenüber jemals erwähnt. Das trat im Prozess deutlich  zutage.

ZEIT: Es heißt, der Vatikan habe gut 100 Mil­lionen Euro verloren, ein für staatliche Investi­  tionen vergleichsweise geringer Betrag. Warum ist das Strafmaß so hoch?

Becciu: Die Strafe ist nicht nur zu hoch, sie hätte nie verhängt werden dürfen. Ich bin nicht  verantwortlich für etwaige Verluste, denn ich habe entsprechend der gängigen Praxis im  Staatssekretariat nur mit Genehmigung meiner Vorgesetzten gehandelt. Und warum gilt eine  Investition, auch wenn sie falsch war, als Ver­ brechen? Die Frage quält mich seit der Urteils­  verkündung am 16. Dezember 2023 jeden Tag. Warum wurde ich verurteilt? Die das Ur­ teil gefällt  haben, wissen genau, dass von dem Londoner Geschäft kein einziger Cent in mei­ ne Tasche floss. Sie  wissen auch, dass ich kei­ nerlei Eigentum besitze, mit Ausnahme eines alten Mazda aus dem Jahr  2001.

ZEIT: Sie sollen den Finanzier Mincione begünstigt haben, der den Fonds verwaltete, in den das Staatssekretariat mit riesigen Verlusten  investierte.

Becciu: Das entbehrt jeder Logik. Warum sollte ich das tun? Ich kannte ja den Profiteur der  Investition, Raffaele Mincione, nicht ein­ mal. Warum hätte ich jemanden begünstigen sollen, der dem Staatssekretariat Verluste bescherte? Und warum habe ich, obwohl ich keinen Cent an alledem  verdiente, fast die glei­ che Strafe bekommen wie diejenigen, die sich Millionen in die Tasche steckten?

ZEIT: Bitte Ihr Fazit nach der Pleite in Lon­ don: Darf die Kurie spekulieren? Oder hat Papst Franziskus recht, wenn er sagt: Ich will eine arme Kirche für die Armen?

Becciu: Der Papst hat recht. Aber wir müssen auch die Gehälter der 4.000 Angestellten, die hier im  Vatikan arbeiten, garantieren. Die meisten von ihnen sind Laien und haben Fami­ lie. Sollen wir  sie, wenn das Geld knapp wird, entlassen? Trotz aller Reformen schreibt der Heilige Stuhl weiterhin  rote Zahlen. Unser Haushalt ist im Minus. Die Kirche ist kein Unternehmen und darf nicht  gewinnsüchtig sein, aber wir müssen uns auch finanzieren.

ZEIT: Die deutschen Bistümer sind im inter­ nationalen Vergleich immer noch sehr wohl­ habend.  Mehrere Deutsche waren seit Vati­ Leaks an dem Versuch beteiligt, die Vatikanfi­ nanzen zu  sanieren: Joseph Ratzinger, Ernst von Freyberg, Georg von Boeselager, Kardinal Reinhard Marx. Sind  sie an Rom gescheitert?

Becciu: Das will ich nicht beurteilen. Tatsache ist: Die deutsche Kirche  steht an vorderster Front bei der Unterstützung der Missionen des Heiligen Stuhls für Arme und  Notleidende. Der Finanzskandal, der letztlich zum rozess führte, eskalierte schon 2019, als die Vatikanbank IOR Anzeige gegen das Staats­ sekretariat und die vatikanische Finanzauf­ sichtsbehörde Asif  erstattete. Die Finanzauf­ sicht wurde 2010 von Papst Benedikt XVI. Ins Leben gerufen und 2013 von Papst Franziskus bestätigt, um Geldwäsche und Terrorfinanzie­ rung zu verhindern. Stimmt es, dass  es zwi­ schen dem IOR und dem Staatssekretariat einen Machtkampf um die Finanzhoheit im Vatikan  gab? Becciu: Das wird von vielen behauptet und ge­ schrieben. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Im Übrigen habe ich seit 2018 keine Ämter mehr im Staatssekretariat.

ZEIT: Der wohl härteste Vorwurf gegen Sie lautet, Sie und die sardische Vatikan­Beraterin Cecilia Marogna hätten Geld für die Befrei­ ung einer kolumbianischen Nonne veruntreut: Statt es für die Geisel zu verwenden, die von  islamistischen Terroristen entführt wurde, habe Marogna es für Luxusartikel und Reisen  verschleudert.

Becciu: Diese Behauptung ist unglaublich – und verletzend! Als Priester und erfahrener Diplomat  soll ich die Entführung einer Non­ ne für mich ausgenutzt haben? So zynisch bin ich sicher nicht!  Die Beschuldigung war so abwegig, dass ein Anwalt der Zivilkläger – Professor Giovanni Maria Flick,  der die vatika­ nische Güterverwaltung Apsa vertritt – mei­ nen Freispruch beantragt hat!

ZEIT: Cecilia Marogna soll 575.000 Euro vom Staatssekretariat für die Befreiung erhal­ ten, aber  für sich ausgegeben haben.

Becciu: Ich hatte nie Grund, an der Korrekt­ heit von Frau Marogna zu zweifeln. Ich gehe davon aus,  dass sie ordnungsgemäß mit einer britischen Agentur zusammenarbeitete, die die Befreiung so heißt langen und qualvollen Gefangenschaft frei. Das ist mein größter Trost inmitten dieses schmachvollen  Prozesses.

ZEIT: Hat das Urteil, das Sie als ungerecht ansehen, Ihren Glauben erschüttert?

Becciu: Nein. Ich sehe es als Prüfung. Gott prüft mich. Indem ich leide, wird mein Glau­ be  gereinigt und erneuert.

ZEIT: Das Gericht sprach Sie schuldig, 125.000 Euro an Ihren Bruder auf Sardinien überwiesen zu haben. Die Überweisung war legal, aber Sie  hätten keine Geschäfte mit ei­ nem Verwandten machen dürfen.

Becciu: Ich habe auf Bitte der Bischöfe meiner sardischen Heimat­Diözese gehandelt, die mich 2015  und 2018 um Hilfe für ihre karita­ tive Arbeit baten. Solche Spenden gehörten absolut zu meinen Befugnissen. Das Gericht hat auch festgestellt, dass das Geld eben nicht in der  Tasche meines Bruders landete. Die Überweisungen gingen auf das Konto der Caritas des Bistums. Es  gab niemals geheime Geschäfte mit meinem Bruder!

ZEIT: Sie behaupten, Ihre Gegner im Vatikan hätten ein Komplott gegen Sie geschmiedet. Bitte  erklären Sie das.

Becciu: Im Prozess trat durch Zeugenaussagen klar zutage, dass es Machenschaften gegen mich gab.  Ich hatte das schon vermutet, seit für mich vor drei Jahren dieser Albtraum be­ gann. Meine Anwälte  ringen darum, Infor­ mationen zu erhalten, die immer noch der Geheimhaltung unterliegen – aber  nötig sind, um zur vollen Wahrheit zu gelangen. Sie als Journalisten sollten dem nachgehen!

ZEIT: Die italienischen Zeitungen schreiben, Sie hätten versucht, Papst Franziskus als Kron­ zeugen  vor Gericht zu laden.

Becciu: Falsch! Ich habe den Papst nie gebeten, or Gericht auszusagen, obwohl bestimmte Fakten nur mir und  dem Heiligen Vater be­ kannt sind. Ich war ihm treu.

ZEIT: Sie sollen mit dem Papst telefoniert und das Gespräch aufgezeichnet haben.

Becciu: Ich kann das nicht leugnen, weil ich es vor Gericht gestanden habe. Doch ich hatte nie die  Absicht, die Aufnahme zu verbreiten. Danach bin ich zum Heiligen Vater – und er hat meine  Beweggründe verstanden.

ZEIT: Wollen Sie Ihre Erklärung wiederholen?

Becciu: Nein, besser nicht. Es wäre respektlos, das  hier aufzugreifen.

ZEIT: Konnten Sie mit dem Papst über die schweren Anschuldigungen gegen Sie reden?

Becciu: Das Gespräch mit ihm im September 2020 war unangenehm, weil damit meine Leiden begannen. Nach meinem Rauswurf als Präfekt habe ich versucht, unser Verhältnis zu kitten. Als ich um eine Audienz bat, empfing er mich  sofort. Am Gründonnerstag 2021 besuchte er mich dann zu Hause.

ZEIT: In Ihrer Wohnung im Haus der Glau­ benskongregation?

Becciu: Ja, im Jahr 2021. Er bat mich auch, zurück ins Kardinalskollegium zu kommen.

ZEIT: 2020 mussten Sie auf alle Rechte als Kardinal verzichten. Warum holte der Papst Sie wieder in den Kreis  der Kardinäle?

Becciu: Wahrscheinlich wegen der Unschulds­ vermutung. Deshalb vertraute ich auch auf den Prozess.

ZEIT: Glaubt er denn jetzt an Ihre Schuld?

Becciu: Ich hoffe nicht. Alles andere würde mich  wundern. Ich bin gewiss, dass er sich freut, wenn ich freigesprochen werde.

ZEIT: Sie waren sieben Jahre einer seiner wich­ tigsten Mitarbei er, finden Sie nicht, dass er sie  hat fallen lassen?

Becciu: Unsere Beziehung ist nie abgerissen. Ber ich bitte Sie um Verständnis, dass ich den Heiligen Vater  hier nicht involvieren will.

ZEIT: Haben Sie Angst vor dem Gefängnis?

Becciu: Vorm Gefängnis? Nein!

ZEIT: Warum nicht?

Becciu: Die Strafe wird auf mir weniger schwer lasten als auf meinen Verleumdern. Mich trös­ tet  mein reines Gewissen.

ZEIT: Sie gelten jetzt als verurteilter Verbre­ cher. Wer steht da noch zu Ihnen?

Becciu: Die, die mich gut kennen. Es sprechen mich aber auch Priester und einfache Leute auf der  Straße an. An meiner Seite stehen Men­ schen, die sich tiefer mit diesem unglaublichen Prozess  befasst haben, der in Italien auch als Dreyfus­Affäre bezeichnet wird.

Als »Verurteil­ ter«  abgestempelt zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass man unschuldig ist – das ist schwer. Meine  Seele rebelliert oft gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Aber mir hilft das Gebet. Mir  helfen die aufmunternden Botschaften der Leute aus den Ländern, in de­ nen ich gearbeitet habe.  Viele in der Kurie glauben mir jetzt. Und dann gibt es noch die stille Solidarität der Kardinäle.

ZEIT: Wollen Sie Namen nennen?

Becciu: Nein. Aber ich möchte meine Anwälte erwähnen, Fabio Viglione und Maria Concetta Marzo, die  mich mit Leidenschaft verteidigen. Zu unseren Unterstützern gehören mehrere italienische Richter  und Staatsanwälte, die die Prozessunterlagen  kennen  und  den  Kopf schütteln, wie dieser Prozess  geführt wurde.

ZEIT: Ihre Anwälte plädierten auf »nicht schuldig«.

Becciu: Ich werde meine Unschuld laut heraus­ schreien, solange ich lebe. Skrupellose Men­ schen  haben mich verleumdet und Papst Fran­ ziskus glauben gemacht, ich hätte ihm gescha­ det. Sie  benutzen den Papst. Es ist eine Ver­ schwörung.

ZEIT: Aber wer hat sich denn nun gegen Sie verschworen?

Becciu: Ich habe Vermutungen – aber ich möchte noch abwarten.

ZEIT: Sie sollen sich Feinde gemacht haben bei der Aufklärung der Affäre VatiLeaks 2. Fran­ cesca  Chaouqui, damals Wirtschaftsprüferin im Vatikan, wurde 2016 vom Vatikan­Gerichts­ hof zu einer  Haftstrafe auf Bewährung verur­ teilt. Sie gilt als Ihre Gegnerin.

Becciu: Ich möchte absolut nicht über diese Person reden.

ZEIT: Der Vatikan hat für den Prozess den pensionierten Mafia­Ankläger Giuseppe Pig­natone engagiert. Es heißt, der beziehe nun eine hohe Pension vom Vatikan. Darf Pignato­ ne gegen den  Willen des Papstes entscheiden?

Becciu: Mich interessieren diese Fragen nicht, mich interessiert  die Wahrheit. Aber alle An­ wälte haben sich während des Prozesses über die Verletzung der  Grundsätze und Regeln eines ordnungsgemäßen Verfahrens beschwert.

ZEIT: Glauben Sie, der Papst  begnadigt Sie?

Becciu: Wenn ich den Papst in irgendeiner Weise beleidigt habe, dann knie ich vor  ihm nieder und bitte ihn um Vergebung. Doch wofür soll ich um Vergebung bitten? Ich war den Päpsten  und der Kirche gegenüber im­ mer loyal.

ZEIT: Sehen Sie Ihre Lebenskrise als Teil der Kirchenkrise?

Becciu: Meine Kirche macht eine schwere Zeit durch. Sie wird erschüttert von Säkularismus und   Missbrauchsskandalen, von theologi­ schem Relativismus und ideologischer Polari­ sierung, von Kirchenaustritten und Priester­ mangel. Aber immer ging sie aus den Krisen geläutert hervor.

ZEIT: Und Sie?

Becciu: Ich bete, dass ich die Freude am Glau­ ben nie verliere.

ZEIT: Denken Sie manchmal an Ihren Vater, der nicht wollte, dass Sie nach Rom gehen?

Becciu: Nein. Aber ich leide. Am meisten schmerzt mich der Gedanke, dass der Papst auch nur eine  Minute annehmen könnte, ich hätte ihn belogen. Besonders jetzt, zu Ostern. Jahrelang kam er an Gründonnerstag zu mir nach Hause zum Mittagessen, gemeinsam mit einigen Pfarrern Roms.

ZEIT: Am Gründonnerstag, dem Tag vor Kar­ freitag, wurde Jesus von der Angst vor der Kreuzigung  überwältigt. Er klagte Gott an: Vater, warum hast du mich verlassen?

Becciu: Solche Momente der Verzweiflung kennt jeder Mensch. Wir nennen das auch die dunkle Nacht  der Seele. Doch dann gibt sich Jesus in die Hände des Vaters und sagt: Dein Wille geschehe!

ZEIT: Wo feiern Sie diesmal Ostern?

Becciu: Her nahm ich mit den anderen Kar­dinälen n des Papstes in Romteil. Diesmal feiere ich mit meiner Familie und meinem Bischofin Sardinien, in meiner Pfar­rei in Pattada, meinem Heimatdorf.